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Sexualisierte Jugendgewalt in Italien
Aus Rendez-vous vom 02.10.2023. Bild: SRF/Peter Vögeli
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Gruppenvergewaltigungen Sexualisierte Jugendgewalt in Italien

Zwei Gruppenvergewaltigungen in Palermo und Caivano durch Jugendliche werfen Fragen auf: Welchen Einfluss haben konservative Traditionen? Und wie verbreitet ist sexuelle Gewalt?

Verona ist nicht zu gross und nicht zu klein, nicht zu arm, um bloss aus sozialen Brennpunkten zu bestehen, und nicht zu reich. Es liegt auch nicht in Süditalien. Und: Auch in Verona gibt es Gruppenvergewaltigungen.

Gruppenvergewaltigungen von Caivano und Palermo

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In Caivano waren Anfang Juli in den Ruinen eines ehemaligen Hallenbads zwei Mädchen von bis zu 15 Jugendlichen und jungen Männern vergewaltigt worden. Die Täter lockten die Mädchen unter dem Vorwand zu den Ruinen, dort ungestört spielen zu können. Die Mädchen waren elf und zwölf Jahre alt. Es hatte mehrere Wochen gedauert, ehe die Mutter von einem der Mädchen den Mut fand, die Tat anzuzeigen. Bei den Anführern der mutmasslichen Vergewaltiger handelt es sich um sogenannte «Baby Bosse», das sind Söhne örtlicher Mafiaclan-Anführer.

In Palermo werden sieben Männer im Alter zwischen 18 und 22 Jahren beschuldigt, Anfang Juli eine 19-jährige Frau an einer Strandpromenade vergewaltigt und den Angriff gefilmt zu haben. Das Opfer fand den Mut, die Namen der Täter zu nennen, woraufhin diese verhaftet wurden. Die mutmasslichen Täter waren der Frau teilweise aus der Nachbarschaft bekannt. Seit der Verhaftung erhielt die 19-Jährige verschiedene Drohbotschaften von Angehörigen der mutmasslichen Täter.

Auch in Verona hat es sogenannte Baby Gangs, wie man in Italien kriminelle Jugendbanden nennt. Sie sei sehr besorgt über die Sicherheitslage, sagt eine junge Mutter im Stadtzentrum, und ja, sexuelle Gewalt sei nicht mehr bloss ein Phänomen des Südens.

Kein Kuss-Skandal in Italien

Neun von zehn Frauen in Verona würden sexuelle Gewalt nicht zur Anzeige bringen, weil die Polizei zu wenig energisch ermittle, ist die junge Mutter sich sicher.

Das historische Zentrum der Stadt Verona.
Legende: Auch in Verona gibt es sogenannte Baby Gangs. Abgebildet ist das historische Zentrum der Stadt. SRF

Und was hält sie vom Kuss-Skandal in Spanien, bei dem der Präsident des nationalen Fussballverbands eine Spielerin gegen ihren Willen auf den Mund küsste? «Nicht so schlimm», meint die Frau, «das könne im Überschwang der Gefühle passieren.»

Was kann man aus diesem zufälligen Gespräch auf der Strasse mitnehmen? Vielleicht eine mangelnde Sensibilität für sexuelle Gewalt, einen gewissen Machismus, stärker als in Spanien. Erst seit 1996 gelte sexuelle Gewalt – also auch Vergewaltigung – als Straftat gegen eine Person, unterstreicht Marisa Mazza, Präsidentin von Isolina, einer NGO gegen Femizide. Davor sei sie bloss als Straftat gegen die öffentliche Ordnung und Sitte geahndet und entsprechend milder bestraft worden.

Die Psychologin Giuliana Guadagnini, die in ihrer Praxis Opfer von Jugendgewalt, oft auch sexualisierter Jugendgewalt, behandelt, bestätigt, dass der spanische Kuss-Skandal keine grossen Wellen geschlagen habe.

Portrait von der Psychologin.
Legende: Die Psychologin Giuliana Guadagnini beobachtet, dass der spanische Kuss-Skandal in Italien keine grossen Wellen geschlagen habe. ZVG/Giuliana Guadagnini

Und ein analoger Fall in Italien würde auch viel weniger Aufsehen als in Spanien erregen, weil ein Trainer oder Präsident als väterliche Figur betrachtet werde. «Wir sind Mammoni und Paponi», immer nahe an der Familie, lacht Guadagnini.

Mammoni und Paponi

Das führt zur Frage: Welchen Einfluss hat die patriarchale Struktur der italienischen Familie auf sexualisierte Gewalt? Die Soziologin Paola di Nicola hält das für einen überholten Mythos.

Die einzige elterliche Struktur, die in Italien tatsächlich fundamental ist und auf die man sich stützen kann, sind nicht die Eltern, sondern die Grosseltern.
Autor: Paola di Nicola Soziologin

Denn ein Drittel der Haushalte bestehe heute aus alleinstehenden, meist älteren, verwitweten Personen. Ein weiteres Drittel sei kinderlos beziehungsweise die Kinder seien bereits ausgezogen und bei den übrigen seien vor allem die Grosseltern mit der Erziehung beschäftigt: «Die einzige elterliche Struktur, die in Italien tatsächlich fundamental ist und auf die man sich stützen kann, sind nicht die Eltern, sondern die Grosseltern. Diese grosse elterliche und familiäre Struktur existiert im Alltag nicht mehr.»

Die Krise des Mannes

Für Paola di Nicola ist einerseits die Krise des Mannes und der Männlichkeit – überall in Westeuropa verbreitet, aber in Italien vielleicht ein sensibleres Thema – ein Faktor sexueller Gewalt. Anderseits sei es auch mangelnde Erziehung.

Die Soziologin Paola di Nicola.
Legende: Die Soziologin Paola di Nicola. ZVG/Paola di Nicola

Es gebe eine junge Generation, die niemals ein Nein von ihren Eltern gehört habe, die alles gekriegt habe, was sie wollte, und die sich nun auch nehme, was sie wolle.

Sexuelle Gewalt auch aus der Mittelschicht

Di Nicola beobachtet sexualisierte Gewalt deshalb auch bei Jugendlichen der Mittelschicht. Auch das gebe es überall. Doch dass die Mutter eines Vergewaltigungsopfers zwei Wochen wartet, bis sie eine Anzeige bei der Polizei erstattet, wie in Caivano bei Neapel geschehen, würde in der Schweiz kaum vorkommen.

Das sei tatsächlich ein süditalienisches Phänomen: Die Gegend sei unter Kontrolle der Mafia, die Täter aus dem Umfeld der Mafia, die Mutter sei bedroht worden, weiss Paola di Nicola.

Der Tiktok-Pfarrer

Einer, der die Jugend in Verona kennt, ist Pfarrer Ambrogio Mazzai. Er ist 32 Jahre jung, also ein «Digital Native», und trägt den Spitznamen Don Tiktok, weil er permanent auf Social Media mit vielen Jungen kommuniziert.

Der Tiktok-Pfarrer Ambrogio Mazzai, genannt Don Tiktok.
Legende: Der Tiktok-Pfarrer Ambrogio Mazzai, genannt Don Tiktok. SRF

Ja, es gebe in Italien noch immer eine Tradition, die sexualisierte Gewalt tabuisiere, weil eine Anzeige Schande über die Familie bringe. Ansonsten sieht Don Tiktok die Ursachen sexualisierter Jugendgewalt nicht in typisch italienischen Strukturen. Mobbing auf Social Media, Pornografie im Netz, die gewaltverherrlichende Kultur der sogenannten Trapmusik hätten zur Folge, dass junge Männer Frauen als Objekte betrachteten und nicht die «gesamten 360 Grad eines Menschen sehen».

Graffiti-artiges Wandgemälde mit einem Polizeiwagen und vermummten Personen als Sujet
Legende: Ein Wandgemälde mit Anleihen an die US-Rap- und Trapmusikszene an einer Mauer in Verona Porta Nuova. SRF

Was ist typisch italienisch an den Gruppenvergewaltigungen? Das ist eine heikle Frage. Es gibt, wie erwähnt, Strukturen und gesellschaftliche Traditionen, die sexualisierte Gewalt tatsächlich befördern. Daneben gibt es starke Treiber der sexualisierten Gewalt, zum Beispiel Cybermobbing, die sich nicht auf Italien beschränken.

Rendez-vous, 02.10.2023, 12:30 Uhr

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